M. Breuer: Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge

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Titel
Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge. Differenzierungs- und Individualisierungsdiskurse im Katholizismus


Autor(en)
Breuer, Marc
Erschienen
Wiesbaden 2012: Springer VS
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ingeborg Gabriel

Der Autor ist sowohl Diplomsoziologe wie auch Diplomtheologe und siedelt seine Forschungsfrage am Schnittpunkt beider Disziplinen an. Von daher frägt er nach dem sich aufgrund von gesellschaftlichen Differenzierungen und Säkularisierungsprozessen (verbunden mit Individualisierung und Pluralisierung) vor allem deutschen Milieukatholizismus vollziehenden Wandel. Nach dem Ende des Milieukatholizismus, den Autoren wie Karl Gabriel, Franz-Xaver Kaufmann und Michael Ebertz religionssoziologisch gedeutet haben, will er einen neuen Blick auf das Phänomen werfen. Er stützt sich dabei auf die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann, da «diese erstens ebenso eine gesellschaftliche Strukturtheorie wie ein Entwicklungsmodell bereitstellt, welches gesellschaftliche Modernisierungsprozesse als Umstellung gesellschaftlicher Primärdifferenzierung hin zu funktionaler Differenzierung erklärt… Zweitens beinhaltet die luhmannsche Systemtheorie ein wissenssoziologisches Modell, welches die Veränderung von ‹Wissen›, ‹Kultur› oder – wie es bei Luhmann heißt – Semantik im Zusammenhang mit der sozialstrukturellen Entwicklung zu analysieren erlaubt [...].» Er schließt daraus: «Die Frage stellt sich also dahingehend, welchen Einfluss sozialstrukturelle Veränderungen, die sich strukturbezogen sowie hinsichtlich individueller religiöser Inklusion als Säkularisierung auswirken, auf einen Wandel religiöser Semantiken [...] – (d. h.) religiöser Programme (z. B. kirchliche Lehre) und religiöse Praktiken (z. B. Gottesdienste) haben.» (15f). Dieses höchst ambitiöse und wie die Zitate zeigen sprachlich höchst komplexe Projekt handelt der Autor in sieben Kapiteln ab: Im 1. Teil werden die theoretischen Konzepte eingeführt (Säkularisierung und semantische Transformation; religiöse Semantik im Katholizismus). Im 2. Teil geht der Autor vom milieuförmigen Katholizismus als segmentärer Teilgesellschaft, den ihn betreffenden Transformationsprozessen und der «Säkularisierung in diskursiven Spiegelungen» aus. Der 3. Teil «Religiöse Gesellschaftsbeschreibung» analysiert die katholischen «Diskurse zur Eigengesetzlichkeit» und zur rituellen Inklusion anhand der «Liturgischen Bewegung».

Dieses breit gefächerte Programm stellt vor beachtliche methodische Probleme, die zu lösen dem Autor aus drei Gründen nicht wirklich überzeugend gelingt. Der aus der Soziologie übernommene (und auch dort vielfach diffuse) Säkularisierungsbegriff ist in hohem Maße vereinfachend. Säkularisierungsprozesse (im Sinne abnehmender Relevanz der Religion, genauer des Christentums) haben tiefere Wurzeln und setzten auch um vieles früher ein (nicht erst in der 1. Hälfte des 20. Jhs.) So wäre der sich spätestens seit dem 18. Jhdt. Entwickelnde atheistische Säkularismus mit seiner geschichtsphilosophischen und religionskritischen These (französische Enzyklopädisten, die Dreistadientheorie von Comte und später von Karl Marx usw.) als eine der geistesgeschichtlichen Grundlagen der Säkularisierung ebenso wenigstens ansatzweise zu reflektieren, wie die Erfindung des wiederum in komplexem Zusammenhang damit stehenden säkularen, d. h. nicht mehr religiös, konkreter christlich legitimierten Staates, eine Entwicklung die mit der französischen Revolution politisch wird. Die europäischen Säkularisierungsprozesse und der damit verbundene Wandel im Katholizismus, die im Zentrum der Arbeit stehen, lassen sich unabhängig davon kaum begreifen. Denn die katholische strikte anti-moderne Verweigerung eines aggiornamento im 19. und bis ins 20. Jahrhundert und die Suche danach im 2. Vatikanum stellen unterschiedliche Versuche dar, sich dem historisch neuen Phänomen der Säkularisierung (Gesellschaft und Politik waren historisch praktisch ausnahmslos religiös begründet) einschließlich der damit verbundenen Bedeutungsverluste der eigenen Religion zu stellen. Die ausschließliche Berufung auf soziologische Differenzierungsdiskurse verleiht der Arbeit damit allen historischen Rückblicken zum Trotz eine eigenartige A-Historizität.

Damit verbunden ist ein zweite Kritik: der Autor lässt sich weithin unkritisch auf das Prokrustesbett einer Luhmannschen Systemtheorie spannen. Die Frage nach der Differenzierungskompatibilität des Katholizismus wird so zum einzigen Kriterium für seine Modernitätskompatibilität, die ihrerseits als Letztkriterium fungiert. Nun geht Luhmann bekanntlich davon aus, dass moderne Gesellschaften sich in Teilbereiche ausdifferenzieren (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, später auch Ethik), die nach unterschiedlichen Codes funktionieren, die zu integrieren nicht möglich, ja sogar konterproduktiv ist. Diese Differenzierungstheorie bettet er in seinen späteren Werken in eine Evolutionslogik ein, die deterministische Züge trägt. Eine theologische oder philosophische Rezeption seiner Theorie erweist sich von daher als schwierig, da beide Disziplinen per definitionem das Ganze der Realität und damit auch der Gesellschaft im Blick haben und anthropologisch, d. h. ausgehend vom Menschen, argumentieren. Ein personales ethisches Handeln in einzelnen Teilbereichen nach unterschiedlichen Codes ist aber unmöglich, bzw. es würde die Auflösung des Subjekts und damit der Ethik, und ebenso der Theologie bedeuten. So kann niemand sagen, dass weil der Code der Wirtschaft Haben / Nicht-Haben ist, er durch sein Handeln unabhängig von allem anderen sein Hab und Gut maximieren darf. Dies ist nicht nur aus theoretischen, sondern auch politischen Gründen wichtig. Auch soziologische Debatten kreisen heute daher zunehmend um Fragen wie angesichts Individualisierung und Pluralismus, aber auch Säkularisierung gesellschaftliche Integration in modernen, pluralistischen Gesellschaft möglich ist, ohne die damit verbundenen Freiheitsgewinne durch bedenkliche, ja keineswegs nur katholische, sondern auch totalitäre Integralismen preiszugeben. In der Arbeit finden sich zwar erste Ansätze für ein diesbezügliches Problembewusstsein, so wenn der Autor die These von Alois Hahn referiert (126), wonach der Nationalismus eine derartige Integration ermöglichte (ohne allerdings auf die teils sehr negativen Folgen zu verweisen). Die Luhmannsche Theorie mag demnach in nachholender Bewegung einige Einblicke für eine historische Katholizismusforschung geben, als weitgehend
unhinterfragte Grundlagentheorie taugt sie nicht.

Mit der Orientierung an Luhmann verbindet sich notwendig ein weitgehendes Theologie-Defizit. Um nur ein Beispiel zu nennen: der Autor meint, dass weitgehend unklar ist, wieso sich die katholische Kirche seit dem 2. Vatikanum offensiv zu Religionsfreiheit bekennt (14; 99f). Nun mag es durchaus soziologische Teilerklärungen für eine derartige Entscheidung geben, die meistens recht kurzschlüssig den optimistischen, liberalen Zeitgeist der 1960er Jahre dafür bemühen. Wesentlich waren jedoch theologische und ethische also normative Argumente für Dignitatis humanae, die jedoch hier wie auch im Zusammenhang mit der katholischen Soziallehre nicht in den Blick kommen. Eine derartige Soziologisierung ohne normative Basis führt jedoch notwendig in jene Aporie, die Modernekompatibilität zum normativen Letztkriterium macht.

Die Arbeit enthält demnach interessante Teileinsichten und eine umfassende Aufarbeitung der Literatur zum Milieukatholizismus. Aufgrund der unkritischen Übernahme soziologischer (teils sprachlich schwer verdaulicher) Zugänge versperrt sie jedoch einer weiterführenden Sicht auf das Phänomen eher den Blick als dass sie sie eröffnet. Dies ist zu bedauern, da der Autor – hätte er sein theologisches Standbein gleicherweise kompetent in Anschlag gebracht – die Frage nach der Zukunft der Religion und des Christentums in Europa, die zweifellos zu den spannendsten der Gegenwart gehört, fundiert hätte weitertreiben können.

Zitierweise:
Ingeborg Gabriel: Rezension zu: Marc Breuer, Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge. Differenzierungs- und Individualisierungsdiskurse im Katholizismus, Wiesbaden, Springer Verlag für Sozialwissenschaften, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 441-443.